Nach einem knappen Wahlergebnis steht Deutschland nun vor einer langen Koalitionsverhandlungsphase. Wie auch immer die Verhandlungen ausgehen, ist es unwahrscheinlich dass das Ergebnis positiv für Deutschlands Haltung zu europäischen Angelegenheiten ausfällt.
Bei der ersten Bundestagswahl nach der Merkel-Ära schnitt die CDU so schlecht ab, dass sie sogar den ursprüngliche Bundestagssitz der Altkanzlerin verlor. Dennoch weigerte sich CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet, seinem Kontrahenten Olaf Scholz von der SPD den Wahlsieg zuzugestehen. Laschet argumentiert, dass keine Partei aus dem Ergebnis einen klaren Regierungsauftrag ableiten könne. Für Deutschlands Parteien beginnt damit wahrscheinlich ein Verhandlungsmarathon.
Wie in einem vorherigen Beitrag begründet, sind die drei Koalitionen die aufgrund der Wahlergebnisse am wahrscheinlichsten bleiben; (i) eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP; (ii) eine Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP; und (iii) eine Neuauflage der Großen Koalition von 2017, die CDU und SPD zusammenführt. Sowohl Scholz als auch Laschet haben bisher Option (iii) ausgeschlossen, und der Anreiz, sich an dieses Versprechen zu halten, ist diesmal größer als 2017: Sowohl die SPD als auch die CDU wären besser dran, wenn sie entweder in einer Ampel- oder in einer Jamaika-Koalition der Seniorpartner wären, anstatt de facto gleichberechtigt in eine Große Koalition einzutreten. Eine Jamaika-Koalition wäre hingegen bizarr, da sie von der einzigen Partei angeführt sein würde, die bei dieser Wahl eindeutig zu den Verlierern gehört. Eine Ampel-Koalition hingegen ist die einzige Option, die alle die Parteien zusammenbringt, die als Gewinner aus der Wahl gehen. Daher halten wir diese Option nach wie vor für am wahrscheinlichsten – ihre Durchführbarkeit hängt jedoch von der FDP ab, die zum Königsmacher wird.
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Wie bereits vorher erwähnt, ist die FDP aufgrund ihres Wahlprogramms eher eine natürliche Verbündete der CDU/CSU als der SPD und der Grünen. Am deutlichsten zeichnen sich die Differenzen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ab. Dies ist der Bereich, den FDP-Chef Christian Lindner als Finanzminister in einer eventuellen Koalition gerne in die Hand nehmen würde. In der Finanzpolitik spricht sich die FDP gegen eine Lockerung der Schuldenbremse im Grundgesetz aus und plädiert für eine schnellstmögliche Rückkehr der Schuldenquote auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Gleichzeitig kann es sich die FDP kaum leisten, eine weitere Chance auf eine Regierungsbeteiligung, wie schon 2017, ungenutzt liegen zu lassen. Damals lies Parteichef Lindner die Gespräche zur Bildung einer Jamaika-Koalition mit der (damals stärkeren) CDU und den (damals weniger starken) Grünen scheitern. Ein gesichtswahrender Kompromiss in der Haushaltspolitik dürfte daher in der formalen Einhaltung der Schuldenbremse bei gleichzeitiger Erhöhung der öffentlichen (wahrscheinlich grünen) Investitionen durch außerbilanzielle Investitionsvehikel liegen. Ein Kompromiss in der Steuerpolitik könnte stattdessen allen Parteien größere Opfer abverlangen, da die FDP gegen eine Erhöhung der Einkommenssteuer für Reiche und gegen jede Vermögenssteuer ist, während dies die Eckpfeiler der Wahlprogramme von Grünen und SPD sind.
Innenpolitische Schlüsselthemen für die vier größten Parteien in Deutschland
CDU/CSU | SPD | Bündnis 90/Die Grünen | FDP | |
Staatsverschuldung | -Keine Lockerung der Schuldenbremse -Schnell wieder auf 60% kommen | – Keine Erwähnung der Schuldenbremse – Keine Post-COVID-Austerität, alle “verfassungsrechtlich möglichen Spielräume für die Kreditaufnahme” nutzen | Beibehaltung der Schuldenbremse, aber so reformieren, das diese mehr Investitionen ermöglicht | – Keine Lockerung der Schuldenbremse – Schnell wieder auf 60% zurückkehren |
Investitionen | Öffentliche FuE-Investitionen in Höhe von 3,5 % des BIP bis 2025 – Stärkung des Klimas für private Investitionen (z. B. durch Verbesserung der Verfahren) | Öffentliche FuE-Investitionen in Höhe von 3,5 % des BIP bis 2025 – Der Staat als “strategischer Investor”: Bundesinvestitionen von mindestens EUR 50 Mrd. pro Jahr – Entlastung für hoch verschuldete Kommunen und Sozialbaugemeinden in Ostdeutschland | Zusätzliche öffentliche Investitionen von EUR 50 Mrd. pro Jahr in diesem Jahrzehnt | Öffentliche und private Investitionen in Höhe von 25 % des BIP bis 2025 |
Steuern | – Keine Steuererhöhung – Keine Vermögenssteuer – Keine Erhöhung der Erbschaftssteuer – Abschaffung des Solidaritätszuschlags – Erhöhung der Familienfreibeträge und Kinderfreibeträge – 25 % Gewinnsteuersatz für Unternehmen | – Senkung der Einkommensteuer für die “Mehrheit”, Erhöhung für die obersten 5 % – Beibehaltung und Ausweitung des Solidaritätszuschlags für Spitzenverdiener – Befürwortung der Vermögensteuer (einheitlich 1% auf “hohe Vermögen”) – Reform der Erbschaftsteuer mit effektivem Mindestbetrag für “Unternehmenserben” und “vermögensverwaltende Familienstiftungen“ | – Erhöhung des Einkommensteuerfreibetrags für untere mittlere Einkommensgruppen – Anhebung des Grenzsteuersatzes für die Einkommensteuer auf 45% über 100k und 48k über 200k – Vermögenssteuer (1% über 2 Millionen) Einführung einer auf der Staatsbürgerschaft basierenden Steuerpflicht (wie in den USA) – 25 % Körperschaftssteuersatz | – Senkung der Steuerlast für Arbeitnehmer unter 40% – Verlagerung des Spitzensteuersatzes auf Einkommen über 90 000 – Abschaffung des Solidaritätszuschlags |
Arbeit/Sozialhilfe | Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre im Jahr 2030 | -Stärkung und Ausweitung des Geltungsbereichs von Tarifverträgen -Anhebung des Mindestlohns auf 12 €, gleicher Lohn für Zeitarbeiter und Festangestellte – Ausweitung der Sozialversicherungsbestimmungen für Minijobs | Sicheres Rentenniveau bei 48% | Versicherungsfremde Leistungen sind aus dem Haushalt zu finanzieren |
Klima | – Kohlenstoffneutralität bis 2045 – Senkung der Treibhausgasemissionen um 65 % bis 2030 im Vergleich zu 1990 – Kohleausstieg bis 2038 – Ausweitung des europäischen Emissionshandelssystems auf die Bereiche Mobilität und Heizung – Abschaffung der EEG-Umlage Erhöhung der Steuerabzüge für Investitionen in die Energieeffizienz | – Kohlenstoffneutralität bis 2045 – Senkung der Treibhausgasemissionen um 65 % bis 2030 gegenüber 1990, 88 % bis 2040 – Abschaffung de Erneuerbare-Energien-Umlage (EEG) bis 2025, finanziert aus dem Bundeshaushalt – CO2-Preis für Gebäude soll von Vermietern getragen werden – Streichung von Subventionen für umweltschädliche Aktivitäten | – Kohlenstoffneutralität in 20 Jahren – Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 70 % bis 2030 – 100% erneuerbare Energien bis 2035 – Ausstieg aus der Kohle bis 2030 – CO2-Preis ab 2023 für Industrie und Strom bei 60 Tonnen Euro – Senkung der EEG-Umlage und des Klimabonusfonds – „CO2-Bremse” im Grundgesetz verankern – Ab 2030 keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr verkaufen | – Klimaneutralität bis 2050 – Abschaffung der EEG-Umlage |
Innenpolitisch dürfte der finanzpolitische Kurs einer Ampelkoalition daher weniger konservativ ausfallen als in der Zeit vor COVID, aber nicht völlig vom Kurs abweichen. Wo der Druck der FDP auf den ansonsten progressiven Bundeskanzler Scholz jedoch deutlicher sichtbar wird, ist im Bereich der europäischen Finanz- und Wirtschaftsintegration.
Europapolitische Schlüsselthemen für die vier größten Parteien in Deutschland
CDU/CSU | SPD | Bündnis 90/Die Grünen | FDP | |
EU-Fiskalregelwerk | – Wiedereinführung der SWP-Regeln ohne Lockerung – Weniger Ermessensspielraum, strengere Konditionalität beim VÜD | – Der SWP soll zu einem “Nachhaltigkeitspakt” reformiert werden, um Investitionen zu fördern | – Der SWP soll reformiert werden, um Investitionen zu fördern | – Reform des SWP zur Verschärfung der Sanktionen bei Verstößen |
NGEU | – Vorübergehend one/off | – Sollte ein “dauerhafter Integrationsprozess” werden | – Umwandlung in einen permanenten Investmentfonds | – Vorübergehend one/off |
Wirtschafts- und Währungsunion | – Keine Vergemeinschaftung von Schulden – Vollständige BU und CMU – Kein Haftungspooling – EDIS Staatlicher Insolvenzrahmen für EA-Staaten | – EU sollte sich zu einer “echten Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialunion” weiterentwickeln – BU und CMU vollenden – Befürwortet neue EU-Eigenmittel – Für eine dauerhafte Rückversicherung der Arbeitslosigkeit in der EZ | – Stärkung des EU-Haushalts mit eigenen Mitteln – Umwandlung des ESM in einen EU-Währungsfonds (EMF), der unbedingte ST-Kreditlinien vergeben kann – BU mit EDIS abschließen | – Kein EDIS – Insolvenzordnung für EA-Staaten – ESM in EMF umwandeln – Keine Vergemeinschaftung von Schulden |
EU-Digitalsteuer | Ja | Ja | Ja | Eigenmittel sind illegal |
EU-GZTB | Ja | Befürworter einer globalen Mindeststeuer | Ja | |
EU-Finanztransaktionssteuer | Ja | Ja | Ja | Eigenmittel sind illegal |
Die FDP vertritt eine konservative Position zur europäischen Finanzintegration. Wie die CDU/CSU lehnt es die FDP ab, die EU der nächsten Generation (NGEU) in eine dauerhaft föderale Ausgabenfazilität umzuwandeln. Sie lehnt jede Art von Vergemeinschaftung von Schulden ab (auch durch ein europäisches Einlagensicherungssystem) und sie unterstützt die Schaffung eines Insolvenzrahmens von EU Staaten. Wie die CDU/CSU befürwortet die FDP die Wiedereinführung des Stabilitäts- und Wachstumspakts in der Form, wie er vor der COVID-19-Krise bestand, fordert aber auch eine Verschärfung der Sanktionen bei Verstößen. Im Gegensatz zur Union geht die FDP jedoch so weit, dass sie jede Art von Steuer auf EU-Ebene ablehnt und argumentiert, dass EU-Eigenmittel illegal seien.
Angesichts der extremen Position der FDP befürchte ich, dass der Zwang zum Zusammenhalt einer eher unnatürlichen Koalition in der Innenpolitik, den europapolitischen Handlungsspielraum von Scholz erheblich einschränken wird. In einem Ampelkoalitionsszenario wird die FDP erhebliche Zugeständnisse in der Innenpolitik machen müssen, aber wahrscheinlich im Gegenzug verlangen, dass Scholz keine progressive Position zur europäischen Steuerintegration einnimmt. Während die FDP davon überzeugt werden könnte, mehr Investitionen auf EU-Ebene zu unterstützen, insbesondere wenn sie sich auf grüne und digitale Technologien konzentrieren, würde sie sich mit Sicherheit jeder Lockerung des SWP widersetzen und wahrscheinlich die Versuche einschränken, die einmalige “Next Generation EU” in eine Art dauerhaftes quasi-föderales Instrument zu verwandeln, das durch erhöhte Eigenmittel in den EU-Haushalt eingebettet ist.
Da Frankreich bald in seine eigene Wahlkampfphase eintritt und Scholz wahrscheinlich keine eindeutige Position zur Reform des SWP einnehmen wird, solange in Deutschland keine Regierungskoalition gebildet ist, wird sich die Europäische Kommission in einer schwierigen Lage befinden, wenn sie entscheidet, welche Art von finanzpolitischen Leitlinien sie vor dem nächsten EU-Semesterzyklus herausgeben soll. Jede Überschreitung der roten Linie der FDP zum SWP könnte die Bildung einer progressiven Koalition in Deutschland zum Scheitern bringen und sich negativ auf das Ergebnis der anstehenden entscheidenden Diskussion über den SWP auswirken.
Auch wenn es noch zu früh ist, um eine solide Schlussfolgerung über die Ausrichtung der neuen deutschen Regierung in europäischen Angelegenheiten zu ziehen, besteht das Risiko, dass die erste Wahl nach der Merkel-Ära den Beginn einer Periode des deutschen Rückzugs kennzeichnet.